Disappointed but not surprised: Politische Bildung nach der Europawahl 2024
Die Europawahl 2024 hat Erfolge rechtspopulistischer Parteien in Europa verdeutlicht, darunter den Rassemblement National in Frankreich und die AfD in Deutschland. Junge Wähler*innen wenden sich zunehmend extremeren Positionen zu, angetrieben durch wirtschaftliche Unsicherheit und den Einfluss sozialer Medien. Politische Bildung spielt eine Schlüsselrolle, um Desinformation zu entlarven, populistische Rhetorik zu hinterfragen und demokratische Werte zu stärken. Welche Wege sind nötig, um Europas Demokratie widerstandsfähig zu machen?
(Dieser Artikel erschien erstmals in der Fachzeitschrift Außerschulische Bildung 4/2024: Link)
von Christian Johann, Katie Wagner und Matthew Gower
Die Europawahl 2024 brachte Erfolge für rechtspopulistische Parteien wie den Rassemblement National und die AfD, was Frankreich und Deutschland politisch erschütterte. Junge Wähler*innen fühlen sich zunehmend enttäuscht von politischem Stillstand und wenden sich extremeren Parteien zu. Wirtschaftliche Unsicherheit und der Einfluss sozialer Medien tragen zu dieser Entwicklung bei. Politische Bildung ist entscheidend, um diese Trends zu hinterfragen und Demokratie zu stärken. Sie muss Menschen helfen, Desinformation zu erkennen und populistische Rhetorik zu durchschauen, um eine inklusive Gesellschaft zu verteidigen.
Am 9. Juni 2024 waren rechtspopulistische Parteien bei den Wahlen zum Parlament der Europäischen Union erfolgreicher denn je. Aus Sicht der politischen Mitte und auch der politischen Bildung war das Ergebnis enttäuschend und wenig überraschend zugleich. Einige Enttäuschte retteten sich in die Rhetorik, es hätte noch schlimmer kommen können. Konkret aber hatten in Frankreich und Deutschland, politische und wirtschaftliche Zentren der EU, die rechtsextremen Parteien Rassemblement National (RN) und die Alternative für Deutschland (AfD) den ersten beziehungsweise zweiten Platz errungen! Pariser und Berliner Politik wurden folgenreich erschüttert: Präsident Emmanuel Macron löste die Nationalversammlung auf; bei den folgenden Neuwahlen konnte nur knapp eine rechtsextreme Parlamentsmehrheit verhindert werden. Nachdem die AfD bei den Europawahlen mehr Stimmen als jede Partei der Koalition erhielt, verbesserten sich die Nachrichten für Kanzler und Kabinett Olaf Scholz auch in den im September folgenden Landtagswahlen nicht; die Reaktion hierauf wiederum war auch die Einführung von Kontrollen an den deutschen Außengrenzen und damit der Auftakt zu einem deutschen Vabanquespiel mit der EU.
Die Wahlerfolge des RN und der AfD spiegeln eine Entwicklung wider, die sich in vielen europäischen Ländern zeigt. In Italien regiert seit zwei Jahren die einst als rechtsextrem eingestufte Giorgia Meloni nun als pragmatische Politikerin. Auch in Ländern wie Finnland und den Niederlanden haben rechtspopulistische Parteien an Einfluss gewonnen. In vielen Ländern der EU ist der Zulauf zu extremen Parteien kein rein jugendliches Phänomen. Auch ältere Wähler*innen entscheiden sich zunehmend für rechtsextreme Bewegungen. Doch gerade junge Menschen scheinen besonders enttäuscht von schleppendem Fortschritt und politischem Streit. Im Vergleich zu 2019 verdreifachte die AfD ihre Stimmenanteile unter jungen Wähler*innen auf 16 %. In Frankreich stimmten 32 % der unter 34-Jährigen für den RN, während Macrons Partei Renaissance lediglich fünf Prozent der Stimmen erhielt (vgl. Serhan 2024). Damit geht Kritik an rechtsstaatlichen Grundlagen und Institutionen einher. Für die Sicherung der demokratischen Zukunft Europas muss daher die politische Bildung für junge Menschen eine zentrale Rolle einnehmen.
Für die Sicherung der demokratischen Zukunft Europas muss daher die politische Bildung für junge Menschen eine zentrale Rolle einnehmen.
Der Blick darf jedoch nicht allein auf die Wahlentscheidungen jüngerer Generationen fallen; auch viele Ältere wenden sich zunehmend extremen Positionen zu. Dennoch verdienen die Sorgen junger Menschen besondere Aufmerksamkeit, da sie empfänglicher für vereinfachende Lösungen scheinen und noch keine Bindung zu demokratischen Parteien entwickelt haben. Dieser Artikel stellt jene Fragen in den Vordergrund, die Europas Demokratien heute beschäftigen: Warum haben rechtsextreme Parteien in allen Altersgruppen, besonders aber unter jungen Menschen, so viel Zuspruch? Welche Rolle spielen Desinformation und soziale Medien in dieser Entwicklung? Wie kann die politische Bildung gestärkt werden, um die Demokratie zu schützen und Menschen jeden Alters in ihrer politischen Reife zu fördern? Wirtschaftliche Unsicherheit, der Einfluss sozialer Medien und generationelle Unterschiede stehen dabei im Zentrum.
Mythen und Feindbilder: rechtspopulistische Strategien
Angesichts einer weiter steigenden wirtschaftlichen Unsicherheit und des Vertrauensverlusts in die etablierten politischen Institutionen nutzen rechtsextreme Parteien geschickt soziale Medien und spaltende Rhetorik, um für ihre Ziele zu mobilisieren. Häufig ohne klare politische oder wirtschaftliche Lösungen anzubieten, greifen sie auf nur noch leicht heruntergespielte nationalistische und rassistische Rhetorik zurück, um Ängste und Unsicherheiten auszunutzen. Die sich dabei zeigende – noch in Formation befindliche – Ideologie basiert auf der Vorstellung einer kulturellen Nation, in der nur diejenigen, die einem bestimmten ethnischen Bild entsprechen, wahre Bürger*innen sind. Diese Rhetorik steht im Gegensatz zur Idee der politischen Nation, in der alle durch gemeinsame Gesetze und Werte verbunden sind. Rechtsextreme Parteien bedienen sich nationalistischer und rassistischer Mythen, die eine „In-Group“ von ethnisch „wahren Bürger*innen“ schaffen, während Minderheiten als Sündenböcke für wirtschaftliche Probleme herhalten.
Hier kommt der politischen Bildung eine entscheidende Rolle zu: Die Vermittlung von Medienkompetenz und kritischem Denken ist notwendig, um die manipulative Wirkung nationaler Mythen und Feindbilder zu durchbrechen. Solche Narrative bieten auf den ersten Blick einfache Lösungen, während die eigentlichen Ursachen vielschichtiger und schwerer zu lösen sind. In ganz Europa zeigt sich, dass rechtspopulistische Parteien nicht nur nationale Identitäten neu interpretieren, sondern auch die politische Landschaft immer mehr prägen. Im Rückgriff auf nationale Mythen mobilisieren sie ihre Basis. In Ungarn hat Viktor Orbán große Anstrengungen unternommen, um Ungarns Geschichte nach dem Ersten Weltkrieg als die eines Opfers äußerer Mächte darzustellen, was er regelmäßig ins Verhältnis zu den Auseinandersetzungen Ungarns mit der EU setzt (vgl. Orban 2022). In Frankreich nutzt Marine Le Pen geschickt nationalistische Erzählungen, um ihre Wählerbasis zu verbreitern. Auch die AfD argumentiert, dass Europa eine Bastion christlicher Werte sei, die von ausländischen Einflüssen, insbesondere dem Islam, bedroht werde. Sie gibt vor, als Bollwerk gegen „fremde Einflüsse“ zu fungieren. Dies trifft insbesondere in vermeintlichen Schnittmengen in der Familienpolitik zu (vgl. Bachmann et al. 2024).
Die Vermittlung von Medienkompetenz und kritischem Denken ist notwendig, um die manipulative Wirkung nationaler Mythen und Feindbilder zu durchbrechen.
Ein zentrales Ziel der politischen Bildung muss es sein, den Einsatz solcher Mythen und Verzerrungen zu entlarven. Indem junge Menschen lernen, diese Strategien der Manipulation zu durchschauen, werden sie befähigt, die demokratische Idee einer inklusiven Gesellschaft zu verteidigen. Hier kommt der politischen Bildung eine besondere Verantwortung zu. Sie muss die rechtsstaatlichen Grundlagen von Demokratie, Minderheitenschutz und Bürgerrechten im internationalen Kontext vermitteln und als unverzichtbare Elemente der Freiheit aller Menschen zentral stellen.
Wirtschaftliche Unsicherheit als Katalysator: Globalisierung und prekäre Beschäftigung
Neben der geschickten Nutzung sozialer Medien und spaltender Rhetorik spielen wirtschaftliche Krisen eine zentrale Rolle für den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien. „It’s the economy, stupid!“ – Bill Clintons eingängiger Wahlkampfslogan zieht auch in Europa, wo wirtschaftliche Krisen nahezu überall zuverlässig den Aufstieg populistischer und rechtsextremer Parteien befördert haben. Viele dieser Parteien, z. B. die AfD, entstanden oder erstarkten als direkte Reaktion auf wirtschaftliche Umbrüche, wie etwa die europäische Schuldenkrise. In Ländern wie der Slowakei unter Robert Fico und Italien mit Giorgia Meloni setzen rechtspopulistische Parteien zunehmend auf nationale Wirtschaftspolitik und Protektionismus, um Ängste in der Bevölkerung vor Globalisierung und Arbeitsplatzverlust zu schüren. Sie versprechen einfache Lösungen für komplexe wirtschaftliche Probleme in einer verflochtenen Welt, oft auf Kosten demokratischer Prinzipien und europäischer Zusammenarbeit.
Jüngere Menschen sind besonders anfällig für die Effekte wirtschaftlicher Krisen. Steigende Lebenshaltungskosten, wachsende Schulden und der Mangel an Generationengerechtigkeit veranlassen sie dazu, nach Alternativen außerhalb dessen zu suchen, was sie als etabliertes Politikangebot vorfinden. In einem Umfeld der Verunsicherung fehlen ihnen klare Perspektiven, die aus den Reihen der Parteien kommen, die schon ihre Eltern wählten. Populistische Bewegungen wiederum bieten einfache Lösungen. Sie verbinden wirtschaftliche Unsicherheit mit nationalistischen Mythen.
Eine Studie in der Fachzeitschrift Government and Opposition zeigt, dass es nicht die Arbeitslosenquoten sind, die junge Menschen am stärksten beeinflussen, sondern die Unsicherheit durch befristete Beschäftigung (vgl. Zagórski et al. 2019). Der steigende Anteil befristeter Arbeitsverträge sorgt bei vielen Beschäftigten für Unsicherheit, da sie ein Leben mit geringerer Stabilität befürchten. In Ländern mit hohem Anteil solcher Arbeitsverhältnisse entscheiden sich mehr junge Wähler*innen für rechtspopulistische Parteien. Besonders die sogenannten „Verlierer der Globalisierung“, also weniger gebildete oder mobile Menschen, sehen in Protektionismus und Anti-Immigrationsrhetorik die Lösung wirtschaftlicher Probleme. Populistische Rhetorik greift diese Ängste auf und bietet einfache Erklärungen: Schuld seien Migrant*innen und die Globalisierung, die den Arbeitsmarkt überfordern. Doch diese simplen Lösungen verkennen die tieferliegenden wirtschaftlichen Ursachen und verschleiern die tatsächlichen Herausforderungen.
Erneut eine Aufgabe der (europa-)politischen Bildung: Sie muss junge Menschen dazu befähigen, internationale wirtschaftliche Zusammenhänge zu verstehen und populistische Narrative zu hinterfragen. Es reicht nicht, die Symptome – wie Arbeitslosigkeit oder befristete Verträge – zu betrachten; die dahinterliegenden strukturellen Ursachen und Probleme müssen offengelegt werden, um manipulative, nur vermeintlich praktische Lösungsvorschläge zu entlarven. Geeignete Träger der politischen Bildung und versierte Fachleute gibt es hierzulande traditionell zahlreich.
Generationenfragen und die politische Spaltung
Neben den wirtschaftlichen Unsicherheiten, die alle Altersgruppen betreffen, zeigen sich tiefe generationelle Unterschiede, die die politischen Diskussionen mittlerweile prägen. Diese Kluft ist in den Wahlentscheidungen jüngerer und älterer Generationen sichtbar. Ältere Generationen profitierten von stabileren Arbeitsmärkten und niedrigeren Lebenshaltungskosten. Sie konnten leichter Zugang zu Wohneigentum finden, während jüngere Generationen heute mit steigenden Immobilienpreisen, befristeten Arbeitsverträgen und wachsenden Schulden konfrontiert sind.
Intergenerationelle Spannungen werden in vielen Ländern Europas deutlich. In Polen stimmten 2019 20 % der unter 30-Jährigen für extreme, rechte Parteien, bei den über 60-Jährigen nur ein Prozent (vgl. Foa et al. 2020). Die sinkenden Wohneigentumsquoten der Millennials verdeutlichen die Kluft: Hohe Immobilienpreise und steigende Schulden behindern ihren Zugang zu Stabilität, während ältere Generationen eher von Wertsteigerungen profitieren. Rechtspopulist*innen verstehen es, diese Kluft zu nutzen. Ihre wirtschaftlichen Lösungen bleiben oft vage, konzentrieren sich aber auf die Kontrolle von Einwanderung und Protektionismus, um nachvollziehbare wirtschaftliche Sorgen und Ängste zu adressieren. Besonders junge Wähler*innen, die vom Angebot demokratischer Parteien enttäuscht sind, greifen auf diese einfachen Erklärungen zurück, ohne historische oder langfristige wirtschaftliche Zusammenhänge einzubeziehen. Dies heißt nicht, dass ältere Menschen vor Kurzsichtigkeit oder dem Wunsch nach Simplifizierung gefeit sind. Intergenerationelle Spannungen werden jedoch noch durch ein weiteres Phänomen verstärkt: das Stadt-Land-Gefälle und die anhaltenden sozialen und politischen Herausforderungen – etwa im Osten Deutschlands. Während in städtischen Regionen tendenziell ein liberaleres und proeuropäisches Denken vorherrscht, dominieren in ländlichen und ostdeutschen Gegenden Parteien wie die AfD, die auch von wachsender Entfremdung der Bevölkerung von etablierter Politik profitieren.
Die Aufgabe der politischen Bildung? Sie muss Menschen jeden Alters befähigen, die komplexen Ursachen wirtschaftlicher Unsicherheit zu erkennen und die Vereinfachungen populistischer Rhetorik zu hinterfragen. Die Spannungen zwischen den Generationen bergen sonst das Potenzial für politische Konflikte, die die europäische Demokratie weiter unter Druck setzen werden. In den kommenden Jahren müssen sich pro-europäische Parteien daher verstärkt mit den Anliegen und Sorgen junger Menschen auseinandersetzen, auch wenn die Mehrheit der Wählerschaft älter sein wird.
Einfluss sozialer Medien auf die politische Meinungsbildung
Der wachsende Einfluss sozialer Medien ist heute und in Zukunft die zentrale Herausforderung für die politische Bildung. Unternehmen wie Meta Platforms, Alphabet, ByteDance, Snap, X, Microsoft und Advance Publications, die hinter Angeboten wie Facebook, Instagram, WhatsApp, YouTube, TikTok, Snapchat, X und Reddit stehen, haben heute millionenfach direkten und ungefilterten Einfluss auf uns Europäer*innen. Gleichzeitig spielen bei ihnen die Suche nach Wahrheit oder Wahrhaftigkeit, Selbstkritik, Kennzeichnung von Falschmeldungen, Objektivität und Achtung der Menschenwürde – alles Grundsätze des journalistischen Berufsethos – keine Rolle. Ihre rein kommerziellen Produkte haben das Potenzial, Wähler*innen von Politik und staatlichen Institutionen zu entfremden. Sie sind zentral bei der Verbreitung von Desinformation und extremen Ideologien. In einer Umfrage des Europäischen Jugendparlaments von 2021 gaben 41 % der jungen Wähler*innen an, dass soziale Medien ihre Hauptinformationsquellen zu politischen und sozialen Themen seien (vgl. European Parliament 2021). Diese Zahl ist in den letzten Jahren gestiegen, da die Pandemie traditionelle Medien ins Internet verlagert hat und politische Akteure zunehmend auf Plattformen wie TikTok, Instagram Reels und YouTube Shorts aktiv sind.
Insbesondere Parteien am rechten und linken Rand des politischen Spektrums haben diese Plattformen erfolgreich genutzt, um junge Menschen zu erreichen. Prominente Beispiele sind Jordan Bardella, Vorsitzender des rechtsextremen französischen RN, mit über zwei Millionen Followern auf TikTok, und Sławomir Mentzen von der polnischen Partei Konfederacja. Die AfD gilt als die deutsche Partei mit der stärksten TikTok-Präsenz, mit über 450.000 Followern (vgl. Deutsche Welle 2024). Demagog*innen sollten nicht ungehindert antidemokratische Rhetorik verbreiten dürfen (vgl. Correctiv 2024). Sie tun es aber. Ohne umfassende Medienbildung, die den Wandel in der Informationsbeschaffung berücksichtigt, fehlen Wähler*innen die Werkzeuge, um die Zuverlässigkeit der Inhalte zu prüfen, die sie täglich konsumieren. Politische Bildung muss diese Lücke schließen. Wir müssen Menschen befähigen, Desinformation zu erkennen und sich kritisch mit digitalen Inhalten auseinandersetzen zu können. Auch ältere Menschen sind Ziel von Desinformation, oft über Plattformen wie Facebook, die bei dieser Altersgruppe beliebter sind. Dies heißt auch, dass politische Bildung die spezifischen Herausforderungen jeder Plattform berücksichtigen muss. So unterscheidet sich die Desinformation auf TikTok von der auf Facebook aufgrund unterschiedlicher Formate und Nutzergewohnheiten. Ein einheitlicher Ansatz genügt nicht, um das Bewusstsein für die Gefahren von Desinformation zu schärfen. Um wirksam zu sein, muss politische Bildung individuelle Ansätze entwickeln, die auf Plattformen und die jeweilige Zielgruppe abgestimmt sind. Wir sollten uns daher gezielt mit den Plattformen auseinandersetzen, die bei unseren Zielgruppen am beliebtesten sind, und analysieren, wie dort interagiert wird – seien es Kommentare, Likes oder das Sharing. Das Ziel muss es sein, Menschen zu befähigen, Informationen kritisch zu hinterfragen, bevor sie sie in ihr informiertes Bild von der Welt einordnen.
In unseren Gesellschaften und in Europa offenbaren sich tiefe Risse. Wie kann die Demokratie gestärkt werden, um dem zu begegnen? Die Antwort auf diese Frage liegt nicht allein in der Politik, sondern auch in der politischen Bildung und in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen.
Eine erfolgreiche Medienkompetenzbildung erfordert daher auch eine Kombination aus allgemeinen und spezifischen Ansätzen. Auf der allgemeinen Ebene sollten unsere Formate über die Existenz irreführender Inhalte von Online-Persönlichkeiten informieren und zeigen, wie kritisches Denken angewendet wird, um diese zu hinterfragen. Auf der spezifischen Ebene müssen wir die typischen Formen von Desinformation auf allen Plattformen erkennbar machen, seien es Deepfakes auf TikTok oder KI-generierte Bilder auf Facebook. Die politische Bildung muss alle diese Aspekte abdecken, um Demokrat*innen umfassend auf die Herausforderungen der modernen Medienlandschaft vorzubereiten. Ein Beispiel für erfolgreiche Medienkompetenzbildung ist die Plattform „Civic Online Reasoning“ (https://cor.inquirygroup.org) der Stanford University, die junge Menschen darin schult, Desinformation im Internet zu erkennen und kritisch zu hinterfragen. Die manipulative Wirkung sozialer Medien kann durchbrochen werden.
Der Blick nach Europa zeigt, dass die Reaktion auf den Aufstieg populistischer Parteien unterschiedlich ausfällt. Daraus müssen wir lernen. In Finnland führte die Einbindung der rechtsextremen Partei True Finns in die Regierung zur Spaltung dieser Partei, während in Frankreich Marine Le Pens klare Distanzierung von der AfD dieser auf europäischer Ebene mehr geschadet hat als alle nationalen Maßnahmen und Versuche, ihre Zustimmung zu halbieren. Vor allem aber zeigen die Wahlergebnisse in Europa, dass die politische Bildung eine zentrale Rolle spielt, wenn es darum geht, die Anziehungskraft extremer politischer Parteien zu mindern. Drei Faktoren sollten daher durch die politische Bildung adressiert werden:
Erstens: Demokratie konkreter machen
Demokratie wird in vielen Bildungskontexten oft als nicht verhandelbares Ideal präsentiert, dessen Überlegenheit als selbstverständlich gilt. Regierungen und Politik preisen ihren „demokratischen“ Lebensstil an, ohne dabei eine klare Definition dessen zu liefern, was Demokratie tatsächlich bedeutet. Eine solche Vagheit ermöglicht es sogar Parteien wie der AfD, sich als hochdemokratisch darzustellen, obwohl ihre Politik zum Teil im Widerspruch zu elementaren rechtstaatlichen Grundsätzen steht. Politische Bildung muss auch darauf abzielen, Demokratie zu entmystifizieren, etwa mithilfe der fünf Grundprinzipien der Demokratie nach Robert Dahl: effektive Teilnahme, Stimmgleichheit, aufgeklärtes Verständnis, Kontrolle über die politische Agenda und die Einbeziehung aller Erwachsenen. Diese Prinzipien müssen klar definiert und mit Beispielen aus der Praxis veranschaulicht werden. Dann erkennt der Souverän, also die Wähler*innen, Demokratie als weder starres Ideal noch nebulöse Wissenschaft, sondern als lebendiges System, das ständig verbessert werden muss und kann.
Zweitens: Den Einfluss sozialer Medien endlich ernst nehmen
Der zweite Faktor ist der wachsende Einfluss sozialer Medien auf die politische Meinungsbildung. Politiker*innen und Wähler*innen nutzen soziale Medien, um Informationen – und Desinformationen – zu verbreiten. Online ist es einfach, irreführende oder verkürzte Informationen attraktiv zu präsentieren und die öffentliche Meinung zu manipulieren. Politische Bildung muss lehren, wie Informationen kritisch hinterfragt und bewertet werden. Auch auf dieser Ebene reicht es nicht aus, demokratische Werte als rein ideell zu vermitteln. Mehr Menschen müssen in der Lage sein, die Authentizität von Inhalten zu prüfen, die ihnen täglich online begegnen. Programme für Medienkompetenz müssen hierfür die Basis stellen. Zugleich muss das Vertrauen in den Journalismus und seine Grundprinzipien auch von Seiten der politischen Bildung gestärkt und unterstützt werden.
Drittens: Vertrauen in die Demokratie basiert auch auf Emotionen
Schließlich sollten schon junge Menschen eine persönliche, eine emotionale Verbindung zur Demokratie entwickeln. Sie ist weder ein rein politikwissenschaftliches noch ein nur philosophisches Konzept. Schon John Dewey beschrieb: „Demokratie ist eine persönliche Lebensweise“, die den „Wunsch und Zweck in allen Lebensbereichen“ bestimmt. Wir politischen Bildner*innen müssen zeigen, welche Rolle wir alle im größeren politischen System spielen und welche Kanäle es gibt, um Veränderungen herbeizuführen. Demokratie dient dazu, autokratische Herrschaft zu verhindern, Grundrechte zu garantieren und Selbstbestimmung zu ermöglichen. Diese praktische Seite der Demokratie muss gestärkt werden – vor allem im Austausch mit Menschen aus ganz Europa.
Fazit: Politische Bildung und Blick nach Europa als Schlüssel zur Sicherung der Demokratie
Die demokratische Zukunft der EU steht 2024 am Scheideweg. Die Ergebnisse der Wahlen zum zehnten Parlament der Europäischen Union zeigen, dass rechtspopulistische und extremistische Parteien in Europa an Boden gewinnen – und das quer durch alle Generationen. In unseren Gesellschaften und in Europa offenbaren sich tiefe Risse. Wie kann die Demokratie gestärkt werden, um dem zu begegnen? Die Antwort auf diese Frage liegt nicht allein in der Politik, sondern auch in der politischen Bildung und in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen. Alle Bürger*innen müssen befähigt werden, die Komplexität moderner politischer und wirtschaftlicher Probleme zu verstehen. Wir müssen gemeinsam lernen, wie wir uns in einer digitalisierten Welt, in der Desinformation allgegenwärtig ist, orientieren können. Schon heute beschränkt sich politische Bildung nicht auf die Vermittlung abstrakter Konzepte. Doch in Zukunft muss sie noch direktere, emotionale und digitale Wege finden, um alle Staatsbürger*innen in demokratische Prozesse einzubinden und um zu verdeutlichen, dass Demokratie ein alltägliches Werkzeug sein kann, um die eigenen Lebensumstände zu verbessern. Programme wie „Demokratie leben!“ in Deutschland und die Initiativen des European Youth Parliament zeigen ganz praktisch, dass dies schon heute gelingt. Sie vermitteln jungen Menschen demokratische Werte und motivieren zu aktiver Beteiligung.
Die Zukunft der Demokratie und der Europäischen Union hängt davon ab, wie gut wir heute in der Lage sind, mit jenen ins Gespräch zu kommen, deren Verunsicherung sie an dieser Zukunft zweifeln lässt.
Soziale Medien und wirtschaftliche Unsicherheit verstärken die Notwendigkeit für entschlossene politische Bildung. Nur durch die Förderung von Medienkompetenz, kritischem Denken und einem tiefen Verständnis demokratischer Prinzipien können wir den zunehmenden Populismus und die Polarisierung in Europa eindämmen. Regierungen, Bildungseinrichtungen und alle zivilgesellschaftlichen Akteure müssen gemeinsam daran arbeiten, Formate und Träger politischer Bildung zu fördern, die den Herausforderungen unserer Zeit gewachsen sind. Mehr Menschen aller Altersgruppen müssen sich aktiv und informiert an der Demokratie beteiligen, ihre Stimme hörbar machen und die Mechanismen verstehen und erleben, mit denen sie ihre Gesellschaft gestalten können.
Die Zukunft der Demokratie und der Europäischen Union hängt davon ab, wie gut wir heute in der Lage sind, mit jenen ins Gespräch zu kommen, deren Verunsicherung sie an dieser Zukunft zweifeln lässt. Die europapolitische Bildung muss die Facetten des Rechtsstaats in den Mittelpunkt stellen, die Staatsbürgerschaft nicht ethnisch vorsortiert, sondern auf Basis von Rechten und Gesetzen vermittelt. Zugleich darf Demokratie kein theoretisches Konstrukt sein. Sie muss als lebendige Praxis vorgestellt werden, in der es allen möglich ist, ihre Werte und Prinzipien zu verinnerlichen und sie in ihrem Alltag zu verteidigen. Ansonsten droht spätestens nach den nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2029 die nächste Enttäuschung, die dann noch dramatischer ausfallen könnte.
Zu den Autor*innen
Dr. Christian Johann leitet die Europäische Akademie Berlin (www.eab-berlin.eu). Er ist promovierter Historiker. Seine Interessen liegen in den Bereichen des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der politischen Bildung und der Nutzbarmachung digitaler Instrumente für persönliche Bildungsformate.
direktor@eab-berlin.eu">direktor@eab-berlin.eu
Katie Wagner studiert Deutsch, Soziologie und Pädagogik an der Washington and Lee University in den Vereinigten Staaten. Ihr besonderes akademisches Interesse gilt dem deutschen politischen Extremismus und präventiven Bildungsansätzen. Bei der EAB absolvierte Frau Wagner im Sommer 2024 ein Praktikum. Sie hofft, Deutsch als Fremdsprache unterrichten zu können.
Matthew Gower ist Student im vierten Jahr an der Pennsylvania State University. Er studiert im Hauptfach Politikwissenschaft mit den Nebenfächern Wirtschaft und Deutsch. Im vergangenen Sommer arbeitete er als Praktikant an der Europäischen Akademie Berlin.
Literatur
Bachmann, Claudius/Beck, Celina/Elk, Noreen van/Filipović, Alexander/Heimbach-Steins, Marianne/Heskamp, Lena/Höckerschmidt, Lena/Holz, Celine/Jaskolla, Fabian /Kalb, Monika/Könning, Josef/Klein, Mara/Quaing, Lea/Rehbach, Lukas (2024): Die Programmatik der AfD – eine Kritik. Darstellung und Vergleich mit Positionen der katholischen Kirche. In: Sozialethische Arbeitspapiere, 28. Münster: Institut für Christliche Sozialwissenschaften; https://doi.org/10.17879/87938471427 (Zugriff: 16.09.2024)
Correctiv – Recherchen für die Gesellschaft (2024): „Secret plan against Germany”, 15.01.2024; https://correctiv.org/en/latest-stories/2024/01/15/secret-plan-against-germany (Zugriff: 11.09.2024)
Deutsche Welle (2024): „Far-right AfD appears as strongest German party on TikTok“, 04.06.2024; www.dw.com/en/far-right-afd-appears-as-strongest-german-party-on-tiktok/a-69264717 (Zugriff: 11.09.2024)
European Parliament (Ed.) (2021): European Parliament Youth Survey. Report; https://european-union.europa.eu/contact-eu/meet-us_de (Zugriff: 17.09.2024)
Foa, Roberto/Klassen, Andrew J. et al. (2020): Youth and Satisfaction with Democracy: Reversing the Democratic Disconnect? Cambridge: Centre for the Future of Democracy
Orbán, Viktor (2022): Prime Minister Viktor Orbán’s State of the Nation address. About Hungary. From 12.02.2022; https://abouthungary.hu/speeches-and-remarks/prime-minister-viktor-orbans-state-of-the-nation-address-2 (Zugriff: 30.08.2024)
Serhan, Yasmeen (2024): Der Aufstieg der extremen Rechten in Frankreich hat weitreichende Folgen für Europa. In: Time vom 22.07.2024; https://time.com/6989622/france-eu-europe-far-right-elections (Zugriff: 30.08.2024)
Zagórski, Piotr/Rama, Jose/Cordero, Guillermo (2021): Young and Temporary: Youth Employment Insecurity and Support for Right-Wing Populist Parties in Europe. In: Government and Opposition, 56(3), pp. 405–426; https://doi.org/10.1017/gov.2019.28 (Zugriff: 16.09.2024)