15. Dezember 2024.Europa sieht sich geopolitischen, wirtschaftlichen und institutionellen Herausforderungen gegenüber, die zugleich neue Möglichkeiten für Zusammenarbeit, Eigenständigkeit und weitere Integrationsschritte eröffnen – trotz globaler Unsicherheiten und interner Spannungen. Eine Analyse von Wolfgang Merz.

Europa vor dem Jahreswechsel
Viele Herausforderungen, aber auch Chancen

Dr. Wolfgang Merz   

Europa hat in diesem Jahr eine bemerkenswerte Wahl zum Europäischen Parlament erlebt, die dazu beigetragen hat, europäische Themen bei den rund 360 Millionen Wahlberechtigten wieder stärker in den Fokus zu rücken. Die Wahl brachte, wie in vielen Mitgliedstaaten, einen erkennbaren Rechtsruck mit sich. Dennoch bleiben stabile Mehrheiten im Parlament auch ohne die Beteiligung der rechten Strömungen möglich.

Aufbauend auf den Ergebnissen hat sich die Europäische Kommission strategisch neu ausgerichtet. Während zuletzt die Klimapolitik dominierte, rücken nun Themen wie Sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit stärker in den Vordergrund. Ursula von der Leyen startet gestärkt in ihre zweite Amtszeit, da sie bei ihrer Bestätigung mehr Unterstützung erhielt als die nominierten Kommissare. Zudem konnte sie mit einem gut durchdachten Zuschnitt der Kommission punkten.

Zwar wurde bei der Besetzung der Kommission die „Brandmauer“ nach rechts etwas aufgeweicht, doch kein einziger Kandidat fiel in den Abstimmungen durch. Von der Leyen dürfte zudem mit Herrn Costa, dem neuen Präsidenten des Europäischen Rates, weniger Konfliktfelder haben als mit seinem Vorgänger Michel. Ergänzt wird dieses Bild durch eine engagierte neue Außenbeauftragte, Kaja Kallas, die im Vergleich zu ihrem Vorgänger eine aktivere Rolle einzunehmen scheint.

Trotz dieser institutionellen Stärkung sieht sich die EU drei großen Herausforderungen gegenüber:

1) Trump 2.0: Stresstest für Europas Einigkeit und Eigenständigkeit

Der erneute Amtsantritt von Donald Trump als US-Präsident wird Europa vor erhebliche Herausforderungen stellen, insbesondere in der Handels-, Verteidigungs- und Ukrainepolitik. Vorrangig sollte Europa in all diesen Bereichen geschlossen auftreten, um die transatlantische Partnerschaft auf Augenhöhe zu gestalten. Andernfalls riskiert die EU, dass Trump ihre Institutionen spaltet und schwächt. Auch nationale Alleingänge einzelner Mitgliedstaaten gilt es zu vermeiden.

Europa muss gleichzeitig an seiner strategischen Unabhängigkeit von den USA arbeiten. Das Weimarer Dreieck – die Zusammenarbeit zwischen Deutschland, Frankreich und Polen – könnte hierbei eine stärkere Rolle übernehmen. Es bietet die Chance, Versäumnisse der EU in der Förderung einer einheitlicheren Politik zu korrigieren und weitere Schritte der Integration voranzutreiben.

Die US-Wahl hat komplettiert, dass es in der westlichen Welt eine klare Rechtströmung bis zur extremen Rechte gibt. Erneut hat die „demokratisch Mitte“ keine klare Lösung dafür gefunden, wie man diesen Trend stoppen könnte. Wenn man sich etwa in urbanen Milieus bewegt und unterschätzt, wo die eigentlichen Probleme der Landbevölkerung liegen, wird man diesen Trend auch weiter beobachten können. Den diesen Strömungen unterliegenden eindeutigen anti-europäischen Tendenzen müsste man mit klaren Argumenten begegnen, die die Vorteile der EU und Europas klar untermauern.

Der Handelskonflikt dürfte aufflackern, wobei es US-Zölle geben wird, welche neben den hochsubventionierten Produkten aus China die Wettbewerbsfähigkeit der EU von zwei Seiten weiter schwächen wird. Es ist daher umso vordringlicher, die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit der EU im Lichte der Draghi- und Letta-Berichte rasch anzugehen. Dies auch deshalb, weil Trump eine offensive Deregulierung der Wirtschaft verfolgen wird, die einen weiteren Wettbewerbsnachteil für Europa bedeuten kann. Letztlich könnte auch ein heftiger Handelskonflikt zwischen den USA und China zu einer Umlenkung von chinesischen Produkten auf den europäischen Markt führen.

Trump dürfte sich finanziell oder sogar substantiell von der NATO zum Teil zurückziehen. Europa muss damit rasch die alte Idee des französischen Staatspräsidenten Macron aufgreifen, an einer europäischen Verteidigungsstruktur zu arbeiten. Die Grundlage ist gelegt mit einem Verteidigungskommissar, der allerdings bisher keine Kompetenzen hat. Die Kompetenzfrage ist im Übrigen auch knifflig, weil unklar ist, ob man in diesen sensiblen Bereichen (wie etwa der Nuklearkapazität einzelner Staaten) überhaupt eine EU-Lösung machbar ist oder ob man nicht auch eher mit einer Gruppe gleichgesinnter Staaten operieren sollte. In jedem Fall sollten Vereinbarungen getroffen werden, wie man mit länderübergreifenden Rüstungsprojekten Kosteneinsparungen herbeiführen kann. Unabhängig drohen wohl unvermeidbare Mehraufwendungen für die Verteidigung oberhalb des in der NATO vereinbarten 2%-Ziels. Schließlich droht bei der von Trump avisierten raschen Lösung des Ukrainekriegs Europa in eine Zuschauerrolle zu geraten. Hier wäre es wichtig, dass von der Leyen auch in Abstimmung mit Regierungschefs, die einen guten Zugang zu Trump haben, die Gesprächskanäle zu der neuen US-Administration offen zu halten, auch um sich ein Minimum an Einfluss zu wahren.

2) Globale Unsicherheiten und Europas Rolle in einer neuen Weltordnung

Die extremen globalen und geopolitischen Unsicherheiten, insbesondere ausgelöst durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, haben die Weltordnung grundlegend verändert. Die Welt teilt sich zunehmend in Staaten, die auf freiheitlich-demokratischen Prinzipien beruhen, und solche, die autoritären oder totalitären Systemen folgen. Europa steht vor der Aufgabe, sich enger mit Ländern zu verbünden, die dieselben Werte teilen, und gleichzeitig Strategien für den Umgang mit dem anderen Lager zu entwickeln. Dabei ist entscheidend, dass Europa außenpolitisch geschlossener und mit einer stärkeren gemeinsamen Stimme auftritt – ein Bereich, in dem die neue Außenbeauftragte wichtige Impulse setzen könnte.

Zwei aktuelle Entwicklungen verdeutlichen, dass die neue Weltordnung dynamisch bleibt. Erstens ist das kürzlich abgeschlossene Mercosur-Abkommen ein bedeutender Erfolg. Es verbindet Europa mit südamerikanischen Staaten zu einem freien Markt mit mehr als 700 Millionen Menschen und zeigt, wie freier Handel Länder auch über Kontinente hinweg zusammenführen kann. Zweitens beweist der unerwartete Sturz von Assad, dass die Einflussmöglichkeiten autoritärer Mächte wie Russland und Iran keineswegs unbegrenzt sind.

Die EU hat in diesem Kontext die Chance, eine aktive Rolle bei der politischen Stabilisierung Syriens zu übernehmen und den Dialog mit der Türkei neu zu beleben. Gleichzeitig sollte Europa seine China-Strategie überdenken. Angesichts der massiven Zölle der neuen US-Administration, von denen sowohl die EU als auch China betroffen sind, könnten sich gemeinsame Interessen ergeben, die eine neue Basis für Zusammenarbeit schaffen.

3) Politische Herausforderungen in der EU: Eine Chance für mutige Kommissionsführung

Die schwierige politische und auch ökonomische Lage in Deutschland und Frankreich stellt die EU vor eine weitere Herausforderung, zumal in anderen Mitgliedstaaten sich auch kein hervorgehobener Politiker anbietet. Dies könnte eine Chance für von der Leyen sein, um die neue Kommission in bestimmten Dossiers in eine gute Startposition zu bringen und nach eigenen Mehrheiten zu suchen. Die frühere Methode, zunächst deutsch-französische Kompromisse abzuwarten, die sich in den letzten Jahren sowieso als wenig tragfähig herausgestellt haben, wäre zunächst einmal nicht mehr die erste Wahl. Die Kommission müsste dann auch den Mut aufbringen, bestimmte rote Linien vorab selbst zu überschreiten.

Insgesamt bringen all diese Herausforderungen durchaus positive Aspekte für Europa und für die EU. Trump kann der EU neue Integrationsfelder eröffnen, die geopolitischen Spannungen schärfen den Blick Europas, wer die wirklichen Partner sind und politische Schwächen in zentralen EU-Mitgliedstaaten könnten die Kommission in die Rolle eines klugen Impulsgebers in bestimmten Dossiers bringen.

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Der Autor Dr. Wolfgang Merz ist Berater, Dozent und Autor mit umfassender Erfahrung in nationalen, europäischen und internationalen Prozessen. Als ehemaliger leitender Mitarbeiter im Bundesministerium der Finanzen und Economist beim Internationalen Währungsfonds bietet er strategische Beratung, praxisnahe Bildung und fundierte Publikationen an. Sein Fokus liegt auf der Verbindung von Ökonomie und Politik, um Organisationen und Individuen in einer vernetzten Welt zu unterstützen.

Mehr unter www.wolfgang-merz.de.

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Die Rubrik EAB Impulse bietet Meinungen und Analysen zu aktuellen Entwicklungen in Europa. Die Beiträge spiegeln allein die Perspektiven der Autorinnen und Autoren wider und laden zum Nachdenken und Diskutieren ein. Weitere Informationen zur Arbeit der Europäischen Akademie Berlin und zu ihren Angeboten finden Sie unter:

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